Unfreiwillige Migration
In den britischen Kolonien Maryland und Virginia gab es wegen des arbeitsintensiven Tabakanbaus, dem wichtigsten Exportgut, eine große Nachfrage an Arbeitskräften. Über den Zeitraum von 1607, der Gründung der ersten Kolonie Virginia durch die englische Aktiengesellschaft Virginia Company of London, bis 1682 waren 92.000 Einwanderer aus Europa gekommen, drei Viertel davon waren Vertragsknechte.1
Vertragsknechte waren Männer und Frauen, die einen Vertrag abschlossen, auch als Indentur2 bekannt, mit dem sie sich verpflichteten, eine bestimmte Zeit – traditionell sieben Jahre – für eine andere Person ohne Lohn zu arbeiten, im Austausch für die Kosten des Transports in die Kolonien und für Nahrung, Kleidung und Unterkunft während ihrer Vertragszeit. Im frühen 17. Jahrhundert hatte es in England einen enormen Anstieg der Zahl armer Arbeitsloser gegeben.3 Viele Menschen verkauften Jahre ihrer Freiheit mit der Hoffnung auf Landbesitz und Wohlstand. Nach Beendigung der Vertragszeit wurde der Knecht freigelassen und bekam ein Handgeld oder ein Stück Land (freedom dues) ausgezahlt und konnte so als unabhängiger Bauer oder freier Arbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen. Die Entscheidung, sich für die Aussicht auf ein besseres Leben in einem weit entfernten Land zu verschulden, kann aktiv getroffen worden sein, ohne gleichzeitig eine „freiwillige“ oder „autonome“ Entscheidung zu sein, weil ein Leben in Armut keine Alternative darstellt.4
In der Kolonialzeit verlieh die Indentur als spezifisch koloniale Rechtsform den Plantageneignern nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt über den Vertragspartner. Die europäischen Arbeiter galten als Eigentum und wurden regelmäßig ge- und verkauft. Die Vertragszeit konnte durch bestimmte Umstände verlängert werden, z.B. weil dringend bestimmte Waren oder Dienstleistungen, wie Medikamente oder Behandlung durch einen Arzt, benötigt wurden oder als Strafe für einen Fluchtversuch. Für Frauen, die während ihrer Vertragszeit schwanger wurden, verlängerte sich ihre Vertragszeit um sieben bis neun Jahre und die des Vaters um ein Jahr.5
Die ersten Afrikaner*innen wurden Ende August 1619 von den englischen Freibeuterschiffen White Lion und Treasurer nach Virginia gebracht, die zuvor ein portugiesisches Sklavenschiff überfallen hatten. Sie wurden gegen Nahrungsmittel eingetauscht und dann in Jamestown als Vertragsdiener*innen verkauft. Als Vertragsdiener konnten sie später die Freiheit erlangen und sogar selbst Sklaven halten.
Laut Virginias Volkszählung lebten in der Kolonie im März 1620 zweiunddreißig Afrikaner*innen: fünfzehn Männer und siebzehn Frauen. Sie wurden als „Andere, keine Christen im Dienste der Engländer“ kategorisiert.6 1628 brachte das Freibeuterschiff Fortune 100 weitere „schwarze“ Menschen aus dem westafrikanischen Königreich Ndongo, im heutigen Angola, nach Jamestown, die ebenfalls von portugiesischen Sklavenschiffen geraubt worden waren.
In den ersten Jahren der Kolonie wurde die Tabakwirtschaft durch die Arbeit von Vertragsknechten und, in viel geringerem Maße, von versklavten Afrikanerner*innen ermöglicht.7
Es gibt keine Hierarchie der Unterdrückung.
Audre Lorde
Same same but different
Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter afrikanischer und europäischer (größtenteils britischer, aber auch portugiesischer, spanischer, französischer, türkischer, niederländischer und irischer) Abstammung waren ähnlich. Sie erfuhren von ihren Herren die gleiche brutale und grausame Behandlung. Entlaufene Diener und Sklaven waren ein anhaltendes Problem für Plantagenbesitzer und Gesetzgeber. Durch Strafen, wie das Absitzen der entflohenen Zeit, sollte Druck auf Diener ausgeübt werden, die immer noch eine Chance auf legale Freiheit hatten.
Dass sich die Gesetze „größtenteils als wirkungslos erwiesen haben“, lag laut den Bürgern nicht an mangelnder Durchsetzung, sondern an „der Bosheit von Dienern, die bei ihrer Ankunft und davor Pläne schmiedeten und ersannen, wie sie sich von ihrem Herrn befreien könnten“.8
Es wurde eine Belohnung von tausend Pfund Tabak für die Festnahme eines Flüchtigen ausgesetzt, die der Entflohene durch seine eigene zusätzliche Arbeit zurückzahlen sollte. Schon ein Jahr später wurde die Belohnung auf 200 Pfund Tabak herabgesetzt. Die abschreckende Wirkung hatte sich nicht eingestellt und die Kosten für die Kasse der Kolonie waren zu hoch.
Aber auch die sozialen Beziehungen unter Menschen mit gleichem (Rechts-) Status oder der gleichen Klasse waren von Gleichheit geprägt: Menschen afrikanischer und europäischer Abstammung heirateten untereinander, ein Viertel aller Kinder der Dienstboten stammte aus solchen Verbindung. Gerichtsakten aus dieser Zeit belegen, dass Afrikaner*innen und Europäer*innen zusammen wegliefen, was auf gegenseitiges Vertrauen und Zusammenarbeit hinweist.
Der Status als Freier begründete die Rechte und Privilegien, die das Gesetz den Menschen zugestand. Auch alle freie Personen afrikanischer Abstammung hatten diese Rechte: sie durften wählen, Sklaven oder Diener besitzen und sie konnten Personen des anderen Geschlechts unabhängig von ihrer nationalen Herkunft heiraten.
Massen versus Elite
Im Laufe der Zeit verschlechterte sich die Situation: Die Quelle leicht verfügbarer Arbeiter aus England, die die Arbeit auf den Plantagen erledigen konnten, versiegte. Vertragsknechte wurden für relativ geringfügige Verstöße härter bestraft, um ihre Vertragszeit zu verlängern.
Landwirtschaftlich nutzbares Land und damit die Aussicht auf finanzielle Unabhängigkeit für Freigelassene wurde immer weniger. Die Preise für Tabak fielen und die Steuern wurden höher. 1670 entzog ein Gesetz den Freigelassenen, die kein Eigentum besaßen, das Wahlrecht.
1676 schloss sich die unzufriedene Bevölkerung Virginias der Bacon-Rebellion an. Arbeiter europäischer und afrikanischer Herkunft, Diener und Freie kämpften Seite an Seite gegen einheimische Stämme, unbezahlte Arbeit, die Plantagenelite und die Regierenden der Kolonie. Der Aufstand wurde von britischen Truppen niedergeschlagen.
Divide et impera
Für die Gesetzgeber stellte die Vereinigung von Arbeitern, freigelassenen Dienern und Kleingrundbesitzern eine Gefahr für das kapitalistische Plantagensystem – die Grundlage für wirtschaftliche und politische Macht – dar. Sie erließen Gesetze, die zwischen „Briten und anderen Weißen“ und „Nicht-Weißen“ unterschieden.
1681 wurde diese Formulierung das erste Mal in einem Gesetz gegen Mischehen verwendet. Zuvor waren die Formulierungen „Briten und andere Christen“ oder „Briten und andere Freigeborene“.
Es folgte eine Reihe von Gesetzen, die das Wahlrecht, den Waffenbesitz, das Bekleiden öffentlicher Ämter, den Besitz von Bediensteten oder Sklaven, Aussagen vor Gericht und das Heiraten einer bestimmten Gruppe uneingeschränkt garantierten und einer anderen verweigerten und die bis heute den Rassismus fest in die DNA der Vereinigten Staaten einschreiben.
Die Gesetze verbesserten nicht die Lebensbedingungen oder die wirtschaftliche Stellung der „weißen“ Arbeiter im Vergleich zu vor der Rebellion, sondern nur im Vergleich zu den verschlechterten Bedingungen und Behandlungen, die Menschen afrikanischer Abstammung und Indigene erfuhren. Mit anderen Worten: es wurde getrennt in Ausbeutung und Überausbeutung.
Aber es wurde eine Verbindung zwischen den Arbeitern, die als „Briten oder andere Weiße“ galten und der Plantagenelite hergestellt – der gemeinsam geteilte Status der Überlegenheit der „White Supremacy“.
Die Erfindung von „Weißsein“ ist eine Teile-und-Herrsche-Strategie der Mächtigen als Reaktion auf die Bacon-Rebellion, um die Arbeiter zu spalten und wurde in den britischen Kolonien Maryland und Virginia durch Gesetze – de jure – konstruiert und durchgesetzt. Sklaverei ist nicht nur eine Beziehung zwischen Individuen, es ist ein „vom Staat zugeschriebener Status“.9
Paradigma Sklaverei
Schon bald nach dem Aufstand begann die Zahl der „weißen“ Vertragsknechte zu sinken, während die Zahl der versklavten Afrikaner*innen stark anstieg. Die kurze Zeit der Anfangsjahre in den britischen Kolonien bildete den Übergang von der Vertragsknechtschaft (Indentur) zum System der transatlantischen Versklavung , das – obwohl es Sklaverei schon seit Jahrtausenden gibt – das heutige Verständnis von Sklaverei grundlegend prägt. Dadurch wird die Identifizierung vergangener und gegenwärtiger Formen der Sklaverei erschwert, obwohl historisch institutionalisierte Zwangsverhältnisse (Leibeigenschaft, Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Vertragsknechtschaft, Menschenhandel, Zwangsheirat, Kinderarbeit, Zwangsprostitution etc.) bis ins 20. Jahrhundert die Norm und freie Arbeit die Ausnahme sind.10
Formen der Ausbeutung, die nicht die Parameter der Sklaverei – Eigentumsrechte an und Besitz von Personen – erfüllen oder an das Ausmaß an Grausamkeiten der transatlantischen Versklavung heranreichen und deswegen nicht als Sklaverei bezeichnet werden, sind deswegen nicht weniger ungerecht. Für die Bestimmung, ob eine Person versklavt ist, ist auch die Art der Behandlung der ausgebeuteten Person entscheidend. De facto handelt es sich bei unfreier Arbeit und Zwangsarbeit um Sklaverei.
Ein Verständnis von Sklaverei sowohl als Status wie auch als Zustand hebt die Grenzen zwischen De-jure- und De-facto-Sklaverei auf.
1948 wurde mit der Menschenrechtskonvention der UNO die Sklaverei weltweit verboten. Saudi-Arabien (1962) und Mauretanien (1981) waren die letzten Länder, die offiziell Sklaverei abschafften. Die USA hatten bereits 1865 mit dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika die Sklaverei beendet, allerdings mit einer Ausnahme: „[…] außer als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist“. Der Anteil von People of Color in den Gefängnissen ist weitaus höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Die Jim-Crow-Gesetze, die nach der Abschaffung der Sklaverei erlassen wurden und die Rassentrennung durchsetzten, trugen im wesentlichen dazu bei, dass „Schwarzsein“ weiter kriminalisiert wurde und strafrechtlich verfolgt werden konnte.
Die Civil Rights Acts (1964) und Voting Rights Acts (1965) beendeten zwar die Rassentrennung, de facto sind People of Color immer noch stärker von Ausbeutung und Armut betroffen, auch wenn es Ausnahmen gibt. Die Ausbeutung marginalisierter Gruppen wird erst enden, wenn alle Formen der Ausbeutung enden.
Apartheid war legal. Der Holocaust war legal. Sklaverei war legal. Kolonialismus war legal. Legalität ist eine Frage der Macht, nicht der Gerechtigkeit.
Jose Antonio Vargas
- Vgl. Jacqueline Battalora, Birth of a White Nation. Understanding and Dismantling Privilege, 2015, Online: https://www.academia.edu/59379352/Birth_of_a_White_Nation [Besucht am 25.2.2025], [youtube] Jacqueline Battalora, Birth of a White Nation, 2014, https://www.youtube.com/watch?v=riVAuC0dnP4&t=1710s [Besucht am 25.2.2025] ↩︎
- Das englische Wort für Vertragsknecht ist indenture servant. Im Text wird manchmal das Wort Vertragsdiener oder nur Diener statt Vertragsknecht verwendet und bezieht sich immer auf dieses Arbeitsverhältnis der Indentur.
Aus folgenden Gründen wird im Text häufig das generische Maskulinum verwendet:
1. Es gab in den Kolonien ein enormes Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Männer und Frauen, zeitweise war das Verhältnis 10:1. Dieses Ungleichgewicht könnte mit ein Grund für die späteren Gesetze zu Mischehen sein und deutet darauf hin, dass die Bedeutung von unbezahlter Care-Arbeit für kapitalistische Verwertung bei dem Import von Arbeitskräften in die Kolonien unterschätzt wurde.
2. Selbst Frauen mit dem Status als Freie, z. B. als Ehefrau eines Freien, hatten keine Rechte. Das Frauenwahlrecht wurde erst 1920 in den USA eingeführt.
3. Da wo patriarchale Strukturen wie z. B. die Institutionen der Gesetzgebung gemeint sind, wird das generische Maskulinum verwendet, um diese Strukturen zu kennzeichnen, auch wenn diese Positionen heutzutage auch von Frauen besetzt werden. ↩︎ - „Tatsächlich war die Gründung Virginias selbst teilweise eine Reaktion auf dieses Problem. In seinem Discourse on Western Planting (1584) argumentierte Richard Hakluyt (der Jüngere) gegenüber Königin Elisabeth, dass neue amerikanische Kolonien Englands „verfallene Gewerbe“ beleben und den „Scharen von Herumtreibern und müßigen Vagabunden“ des Landes Arbeit verschaffen würden.“ Online: https://encyclopediavirginia.org/entries/indentured-servants-in-colonial-virginia/ [Besucht am 25.2.2025] ↩︎
- In etwa vergleichbar mit Menschen, die sich für die Dienste von Fluchthelfern in der heutigen Zeit verschulden, mit dem Unterschied, dass heute Migrant*innen in den Ankunftsländern nicht willkommen sind. ↩︎
- Dabei ging es dem Gesetzgeber weder um das Einhalten einer sittsamen Lebensführung noch um eine Form der Bevölkerungspolitik, sondern ermöglicht es den Plantagenbesitzern, die Vertragsknechte bzw. Mägde länger an sich zu binden. ↩︎
- Vgl. Online: https://encyclopediavirginia.org/entries/africans-virginias-first/ [Besucht am 25.2.2025] ↩︎
- Vgl. Online: https://encyclopediavirginia.org/entries/runaway-slaves-and-servants-in-colonial-virginia/ [Besucht am 25.2.2025] ↩︎
- Vgl. ebd. ↩︎
- Julia O’Connell Davidson, The Presence of the Past: Lessons of History for Anti-Trafficking Work, Anti-Trafficking Review, 2017, S. 2, Online: https://antitraffickingreview.org/index.php/atrjournal/article/view/260/231 hier zitiert nach Katarina Schwarz, Andrea Nicholson, Collapsing the Boundaries Between De Jure and De Facto Slavery: The Foundations of Slavery Beyond the Transatlantic Frame, 2020, online: https://link.springer.com/epdf/10.1007/s12142-020-00604-y?sharing_token=0GRDn_y0V9t1i165MY39sPe4RwlQNchNByi7wbcMAY7i-Bk6DQHMoK-xhvE5XA_gXMQ4kuqh7mk8SbbZqEgRgOOfmc1djHDrPJGuW2Kj9xopotluellLpa41rc2VZFtOKtznC2qXZ_mPEy_IZKnZXkvQbr0b3AavMARbcNI6slo%3D [Besucht am 25.2.2025]
Die Autorinnen schreiben hier über Eigentumsrechte als Sklaverei konstituierendes Element, die zwangsläufig zu Entmenschlichung und der Ausübung von Gewalt führen. Absolut lesenswert! ↩︎ - David Eltis, Stanley Engerman, Dependence, Servility, and Coerced Labour
The Cambridge World History of Slavery, vol 3, Cambridge University Press, Cambridge 2011, S. 3 hier zitiert nach Schwarz, Nicholson, Collapsing the Boundaries Between De Jure and De Facto Slavery ↩︎