Tyrannei der Mehrheit vs. Tyrannei der Minderheit

Lesezeit 4 Min.

Das allgemeine Verständnis von Demokratie beruht auf der Vorstellungen von der Souveränität des Volkes. Abraham Lincoln beschrieb in seiner Gettysburg-Rede (1863) Demokratie als „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“. 

Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ist die Grundlage politischen Handelns der ersten modernen Demokratie der Welt. Sie wurde am 17. September 1787 von den Gründervätern der USA unterzeichnet. James Madison, der Hauptautor der amerikanischen Verfassung, unterschied in dem berühmten Federalist Paper N. 10 zwischen democracy (direkte Demokratie) und republic (repräsentativen Demokratie). 

In der direkten Demokratie, in der jeder Bürger direkt über Gesetze abstimmt, sah Madison eine Gefahr. Er argumentierte, dass eine Mehrheit von Bürger mit gemeinsamen Interessen sich gegen die Rechte anderer Bürger oder gegen das Gemeinwohl durchsetzen könnte. 

Wenn in England heute Wahlen für alle Bevölkerungsklassen offen stünden, wäre das Eigentum der Landbesitzer nicht mehr sicher. […] unsere Regierung sollte die langfristigen Interessen des Landes vor Neuerungen schützen. Die Landbesitzer sollten an der Regierung beteiligt sein, um diese unschätzbaren Interessen zu unterstützen und um andere auszugleichen und zu überprüfen. Sie sollten so verfasst sein, dass sie die Minderheit der Reichen gegen die Mehrheit schützen könne.

James Madison, aufgezeichnet von Robert Yates, 26. Juni 17871

Dieses Argument widerspricht der Grundidee der Demokratie: dem Mehrheitsprinzip bei demokratischen Entscheidungen. Die Gründerväter entschieden sich trotzdem für die repräsentative Demokratie, bei der die Bürger eine Gruppe von Repräsentanten wählen, die das Mandat erhalten zu regieren. Die Repräsentant*innen (oder Mandatsträger*innen) schliessen sich im Parlament zusammen, um politische Interessen und Ziele zu erlangen.

Bei der parlamentarischen Demokratie wiederum, besteht die Gefahr, dass eine Minderheit sich gegen die Rechte anderer Bürger oder gegen das Gemeinwohl durchsetzen kann. Die Interessen von Einigen können in der Gesetzgebungen mehr berücksichtigt werden, z.B. die Interessen der Reichen gegenüber den Armen. Die Interessen des Volkes wie z.B. Klimaschutz können zu Gunsten bestimmter Gruppen z.B. Unternehmen oder Aktiengesellschaften übergangen werden. Eine echte Mehrheitsabstimmung in einer direkten Demokratie könnte die Verhältnisse umkehren.

Im antiken Griechenland, der Geburtsstätte der Demokratie, wurden die Repräsentanten nicht gewählt, sondern gelost.

Es gilt z. B. für demokratisch, dass die Staatsämter durchs Los, für oligarchisch, dass sie durch Wahl besetzt werden.

Aristoteles

Oligarchie bedeutet „Herrschaft von wenigen“. Mit Wenigen sind die Reichen gemeint, die faktisch in der Minderheit sind. Sie interessieren sich nicht für das Gemeinwohl, sondern nur für ihren Eigennutz. 

Die Angst vor der Tyrannei der Mehrheit ist nicht unbegründet. Alexis de Tocqueville, Publizist, Historiker und Politiker, wurde 1826 von der französischen Regierung beauftragt, das Rechtssystem und den Strafvollzug der Vereinigten Staaten von Amerika zu studieren. In seinem Buch Über die Demokratie in Amerika (1835/1840) benennt er die „Tyrannei der Mehrheit“ als Gefahr der Demokratie. Menschen, die zur Mehrheit gehören, merken nicht, wenn Freiheit nicht mehr existiert, denn ihre Meinung ist identisch mit der Regierungsmeinung. Die Minderheit kann sich nicht mehr Gehör verschaffen.

Alexis de Tocqueville

Beispiele hierfür waren die Unterdrückung des Protests einer Zeitungsredaktion gegen den Krieg zwischen der Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich und dass die selben Menschen, die Anspruch auf die Gleichheit aller erheben, Gesetze erlassen, die Unterdrückung und Ausbeutung von Schwarzen in Form von Sklaverei und die Ausrottung der First Nations ermöglichen.

Tocqueville kritisiert auch die Idee der Wahlen von Repräsentanten, da dadurch die Illusion, Einfluss auf die Politik und die Regierung zu haben, entsteht und Selbstbestimmung zugunsten eines Fürsorgestaates, der sich als Vormund darstellt, freiwillig aufgegeben wird.

Sie trösten sich über ihre Vormundschaft mit dem Gedanken, dass sie ihre eigenen Vormünder gewählt haben.3 

Alexis de Tocqueville

Ebenso erkannte er, dass die Menschen sich unkritisch verhalten, weil sie durch die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse an Profit, Komfort, Karriere und Wohlstand gewöhnt sind.

Ob nun eine Mehrheit eine Minderheit von Marginalisierten oder die Minderheit der Reichen unterdrückt, oder ob eine Minderheit in Verkleidung der Mehrheit die Mehrheit unterdrückt, am Ende des Tages bleibt Tyrannei Tyrannei.

Tocquevilles Buch erschien 15 Jahre vor Abraham Lincolns Gettysburg-Rede mit dem Narrativ der Souveränität des Volkes, der „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“, das seitdem zu einem der mächtigsten Narrative der Weltgeschichte geworden ist und den Siegeszug der Demokratie begründet.


  1. Farrand, Max, The Records of the Federal Convention of 1787. Vol. 1., Yale University Press., 1911, Online im Internet: https://en.wikipedia.org/wiki/Constitutional_Convention_(United_States)#cite_note-FOOTNOTEFarrand1911a431-60 [Besucht am 11.10.2024] ↩︎
  2. Alexis de Tocqueville: De la démocratie en Amérique, Pagnerre éditeur, Paris 1848 Online im Internet: https://fr.wikisource.org/wiki/De_la_démocratie_en_Amérique/Édition_1848/Tome_2/Deuxième_partie/Chapitre_7#cite_ref-p139_4-0 [Besucht am 20.10.2024]  ↩︎
  3. Alexis de Tocqueville: De la démocratie en Amérique, Band II, Buch 4, Kapitel 6, Pagnerre éditeur, Paris 1848, Online im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Sanfter_Despotismus#cite_note-3 [Besucht am 20.10.2024]  ↩︎