Das Kinderbuch Frederick von Leo Lionni wurde vielfach ausgezeichnet und steht auf der Liste der Teachers‘ Top 100 Books for Children der National Education Association. Es handelt von einer Familie Feldmäuse, die für den Winter Vorräte sammeln. Nur Frederick sitzt scheinbar nichts tuend herum. Er sammelt Farben, Sonnenstrahlen und Wörter für kalte, graue und lange Wintertage. Gegen Ende des Winters neigen sich die Lebensmittelvorräte zu Ende und Fredericks „Vorräte“ trösten die anderen Feldmäuse über die trübe Zeit hinweg. Das ansprechend in Decoupage-Technik gestaltete Buch ist eine Lobpreisung auf Kunst, Kreativität, Fantasie und das Anderssein.
Ohne Frage ist Kunst eine Bereicherung und ein Leben ohne wäre unerträglich trostlos und in Zeiten der Not ist Kunst besser als gar nichts, aber wenn es eine Wahl zwischen Essen oder Kunst wäre, würden sich Menschen wie Mäuse für ersteres entscheiden.
Die Mäusegesellschaft ist eine Subsistenzwirtschaft. Ihren Bedarf decken sie direkt, indem sie Nahrungsmittel aus der Natur entnehmen – nicht mehr als sie verbrauchen können. Es ist keine Erwerbswirtschaft, in der mittels Produktion und Tausch die Bedürfnisse befriedigt werden. In der Menschengesellschaft arbeiten Menschen, um Geld zu erlangen, um dieses gegen Waren zu tauschen.
Um die Effizienz zu steigern, die Produktivität zu erhöhen und letztendlich den Profit zu maximieren, spezialisieren sich die einzelnen entsprechend ihrer Fähigkeiten. Diese Form der Arbeitsteilung braucht eine Mäusewirtschaft nicht.
Insofern es bei Mäusen einen Bedarf an Kunst, Musik oder Literatur gibt, wäre jede Maus in der Lage diese selber zu produzieren – sie wäre nicht nur Konsument*in, sondern selber Künstler*in, was – nebenbei gesagt – viel befriedigender sein kann. Oder die Mäuse sind gemeinsam künstlerisch tätig.
In einer Mäusegesellschaft wäre Frederick tatsächlich ein arbeitsscheuer Drückeberger, der seinen Beitrag zum Gemeinwohl der Gemeinschaft verweigert. Aber weil Mäuse freundliche Gesell*innen sind, füttern sie Frederick mit durch und tolerieren seine Andersartigkeit. Er wäre sonst dem Tod ausgeliefert.
Angenommen Frederick wäre tatsächlich die einzige Maus mit einer künstlerischen Ader, er könnte seine Familie jeden Tag mit seinem Talent erfreuen, aber erst gegen Ende des Winters rückt er damit heraus. Dieser Umstand hebt den Nutzen von Fredericks Tätigkeit für die anderen hervor. Ohne den wäre Frederick auch nur ein Drückeberger und dieses Buch hätte sicherlich keine Preise gewonnen. Aber wahre Toleranz für Andersartigkeit fragt nicht nach dem Nutzen.
Fredericks Geschichte erinnert an „Das häßliche Entlein“. Er ändert sich zwar nicht äußerlich, aber die Blicke der anderen (und der Leser*innen) auf ihn und sein Verhalten ändern sich: vom Außenseiter zum Star. Die meisten Menschen wären lieber an Fredericks Stelle als an der Stelle der anderen Mäuse. Die allermeisten Menschen sind aber an der Stelle der Mäuse, die mühsam Vorräte sammeln und selbst die meisten Künstler*innen können kaum von ihrer Arbeit leben. Dann doch lieber eine Gesellschaft, in der sich alle verwirklichen können, als einige auf Kosten der anderen. Für mehr Mäuseglück!