1735 entwickelte Carl von Linné ein System zur Kategorisierung der Naturreiche „Tiere“, „Pflanzen“ und „Mineralien“. Den Mensch ordnete er in die Klasse der Säugetiere ein. Das Erkennungsmerkmal ist „Nosce te ipsum“ („Erkenne dich selbst!“), die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Das Unterscheidungsmerkmal in der Kategorie „Varietät“ war die geografische Herkunft (Europa, Amerika, Asien und Afrika) und die Hautfarbe. Bis heute wird Linnés Klassifizierung verwendet.
Um Missverständnisse vorzubeugen: Das Konzept der Rasse als eine abgrenzbare Gruppe von Menschen mit als typisch behaupteten Merkmalen ist wissenschaftlich nicht haltbar. Es ist sogar willkürlich.
Über Gene können Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Bevölkerungsgruppen ermitteln werden. Die Menschen unterscheiden sich genetisch innerhalb einer Population (real existierende Fortpflanzungsgemeinschaft) viel stärker als sie sich von anderen Populationen unterscheiden. Nicht-Afrikaner*innen sind mit Ostafrikanern*innen enger verwandt, als diese mit indigenen Südafrikanern*innen.1
Wer Menschen aufgrund ähnlicher Merkmalen in Schubladen steckt, denkt rassistisch, unabhängig davon, ob damit eine Wertungen in angeblich höher- und minderwertig verbunden ist oder ob es sich um eine neutrale beschreibende Klassifizierung handelt. Eine Aussage wie „Eine körperliche Verschiedenheit der Rassen wird wohl niemand leugnen“ zeugt von einer grundsätzlichen Annahme der Idee von Rasse, ob diskriminiert wird oder nicht.
Das Problem liegt schon in der Klassifizierung: sowohl in der angeblichen Unterscheidung, wie auch in der angeblichen Gleichheit innerhalb der Kategorie, wodurch Stereotype2 produziert werden.
Macht der Kategorien
Klassifizieren (wie bei Carl von Linné) ist ein planmäßige (also bewusstes) Einordnen von Gegenstände, Lebewesen, Vorgänge, Abstrakta etc. unter Oberbegriffe/Kategorien aufgrund von Ähnlichkeiten. Kategoriebildung ist aber auch ein fundamentaler Vorgang unseres Denkens. Jeder Mensch ordnet unwillkürlich, intuitiv jegliche Objekte der Wahrnehmung in bekannte Kategorien ein. Damit bringen wir Ordnung in das Chaos der Vielfalt der Welt. Die Kommunikation innerhalb einer Kultur wird vereinfacht bzw. erleichtert, vielleicht auch gerade erst dadurch möglich.
Die Kategorisierung der Welt führt zu einer großen Anzahl hierarchisch sortierter Abstraktionsebenen: von spezielleren Begriffen zu allgemeineren Oberbegriffen und so weiter.
Je abstrakter (je allgemeiner und weniger konkret) eine Kategorie ist, desto realitätsferner bildet sie die Welt ab, desto größer ist die Gefahr von Missverständnisse. Besonders bei der Verständigung mit Angehörigen anderer Kulturen (z.B. haben Ökonom*innen einen anderen Begriff von Wald als Naturschützer*innen).
Die Zuordnungen sind willkürlich, und halten oft einer logischen Prüfung nicht stand, z. B. können Fledermäuse fliegen, werden aber den Säugetieren zugeordnet, Strauße können nicht fliegen, werden aber zu den Vögeln gezählt.
In Wirklichkeit gibt es keine Grenzen zwischen den Phänomenen, die Übergänge sind fließend. Durch die künstlich gezogenen Grenzen werden Begriffe geschaffen, für etwas, das so nicht existieren, wie z. B. „Menschenrassen“3. Es besteht die Gefahr der Verwechslung der Idee bzw. der Konstruktion mit der Wirklichkeit. Es handelt sich hierbei um eine Fehlinterpretation: Weil wir einen Begriff für etwas haben, glauben wir, dass es existiert.
Leit- oder Metakategorien
Leitkategorie sind die Richtlinien für die Sortierung. Die Logik der Kategorisierung folgt den Gesetzen des materiellen und sozialen Überlebens.
Bei traditionelle Kulturen werden Sonne, Erde, Wasser und funktionierende Ökosysteme als lebensspendend und lebenserhaltend betrachtet. In kapitalistischen Gesellschaften wird alles unter mathematischen Kategorien wie dem „Geldwert“ einer Sache oder ihrer wirtschaftlichen Bedeutung untergeordnet, selbst wenn es sich um Lebewesen oder existentielle Lebensgrundlagen wie saubere Luft oder unvergiftetes Wasser handelt. In der aufgeklärten Westlichen Welt sind die Leitkategorien Begriffe wie Fortschritt, Vernunft, Kontingenz (Alles ist möglich) oder Abfall (im Sinne von nutzlosen Objekten oder gescheiterten Menschen, Dinge, die sich nicht mehr ins System integrieren lassen) sowie die gegensätzlichen Begriffspaare Ordnung vs. Chaos und Kultur vs. Natur. Ein zusätzliches (ideologisches) Problem ist die latente bewertende Nebenbedeutung der Begriffe; die intuitive Verbindung zum Gegensatz von „Gut und Böse“.
Die Gesamtheit der Kategorien bildet ein stark vereinfachtes, geordnetes Modell der Wirklichkeit. Sie ist nicht die Wirklichkeit, sondern eine Konstruktion. Das gilt für die Wissenschaft, für das Alltagsbewusstsein so wie für das mythisch-magische Denken traditioneller, indigener Kulturen. Wegen der Gefahr der Verwechslung der Konstruktion mit der Wirklichkeit, bedarf es der philosophischen Reflexion, der bewussten Suche nach der Realität hinter den Kategorien. Das ist eine Aufgabe für jeden Menschen, nicht nur für Philosoph*innen.
Carl von Linnés System der Klassifizierung der Naturreiche bildet ein Monopol, das die Sichtweise auf die Natur begrenzt. Andere Klassifizierungen sind denkbar wie die Klassifizierung von Ökosystemen nach funktionalen Merkmalen, wie es 2022 Forscher*innen der IUCN (International Union for Conservation of Nature) vorschlugen.
Bildungsrassismus4
Menschliche Rassen wurden nicht nur unterschieden und charakterisiert, sondern auch in eine Rangordnung gestellt. An der Spitze der Rassen stand die „kaukasische“, die allen anderen körperlich und vor allen Dingen geistig überlegen sein sollte. Die „Weißen“ hätten demnach die höchste Zivilisation und Kultur. Die Befähigung zur höchsten geistigen Entwicklung lieferte gleichzeitig die Berechtigung, ihre Macht über alle Teile der (un)bewohnten Erde einschließlich der Menschen in den kolonisierten Gebieten auszubreiten. Vermeintliche wissenschaftliche Begründungen haben dazu geführt, dass Abermillionen von Menschen verfolgt, versklavt und ermordet wurden. Es gab nicht nur vermeintliche naturwissenschaftliche Rechtfertigungen für eine vermeintliche Überlegenheit, sondern auch philosophische Begründungen.
Die Aufklärung – ab 1700 – berief sich auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz und wollte sich von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen und Ideologien befreien. Kant und vielen seiner Zeitgenossen verbanden die angeblichen Unterschiede von Rassen mit einer Über- bzw. Unterordnung: Die Rassen unterschieden sich in ihrer Bildungsfähigkeit. An der Spitze der Vernunftbegabten standen die „weißen“ Europäer.
Hegel & der Weltgeist
Hegel entwickelte in seiner „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ – ausgehend von der alte Lehre von den Lebensaltern der Menschheit – die mystische Vorstellung von Geschichte als Entwicklung eines Weltgeistes mit dem Endzweck der Verwirklichung von Vernunft und Freiheit, die ihren Anfang in Asien (China und Indien) nahm und die sich im protestantischen Europa, genau genommen im preussischen Berlin, wo Hegel an der Universität lehrte, vollendete.5
„Diese Wissenschaft hat sich zu den Deutschen geflüchtet und lebt allein noch in ihnen fort; uns ist die Bewahrung dieses heiligen Lichtes anvertraut.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Hegel glaubte auch, dass geschichtsprägende Handlungen, unter anderem Kriege, eine Notwendigkeit für die Verwirklichung des Endzweck des Weltgeistes, dem Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit, seien, auch wenn es den handelnden Menschen nicht bewusst ist. Welthistorischen Repräsentanten wie z.B. Napoleon ( „Weltgeist zu Pferde“), die eigene Interessen verfolgten, seien Werkzeuge im Dienste eines höheren Zwecks. Das nennt Hegel die „List der Vernunft“.
Zauberwort Entwicklung
In Hegels Gedankengebäude ist die historische Realität der drei anderen Kontinent nicht mitgedacht: Vor der Kolonialisierung waren die Menschen dort bereits frei. Das führt zu einem unauflöslichen Widerspruch.
„Sklaverei ist an und für sich Unrecht, denn das Wesen des Menschen ist die Freiheit, doch zu dieser muss er erst reif werden.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
An und für sich, sagt Hegel auch, haben alle Menschen die gleichen Rechte. Aber bei Afrika handele es sich um ein „Kinderland“ (Lehre vom Lebensalter der Menschheit) und dieses muss erst noch zur Freiheit reif werden. Gleichzeitig argumentiert Hegel, gäbe es für Afrika keinen Weg ins Erwachsenenalter der Menschheit, denn der Zustand der Afrikaner*innen („N-Wort“ im Original) sei „keiner Entwicklung und Bildung fähig“. Ihre Welt sei der „rohe Naturzustand, ohne an Menschliches anklingende“. Er begründet das damit, dass sie keinen Fortschritt, keine Schrift, keine Verfassung, keinen Staat, kein Rechtsempfinden und keine Religion („keine Vorstellung von einem Gott, von einem sittlichen Glauben“) hätten, sondern nur blosse Zauberei. Götter, die sich nicht bewähren, werden kurzerhand abgeschafft. Dies „kann nur durch despotische Gewalt gebändigt werden“.6 Damit wurde die europäischen Zivilisierungsmission inklusive Sklaverei begründet.
Der Fehlschluss liegt aber nicht darin, dass Afrikaner*innen nicht zu Entwicklung und Bildung fähig seien, sondern darin, dass eine Entwicklung des Weltgeistes von Hegel vorausgesetzt wird und er damit auch die Maßstäbe für so eine Entwicklung festlegt. Ebenso wird eine Teilnahme am Entwicklungsprozess der Menschheit, ob sie aufgeschoben wird oder ganz verweigert, vorausgesetzt. „Entwicklung“ ist das Zauberwort, mit dem Rangunterschied begründet werden. Das Unrecht liegt aber schon in der Idee der Rangordnung. Rangordnung setzt Hierarchie voraus, es gibt folglich immer Menschen die ganz unten stehen.
Rassismus ohne Rassen
Es gibt keine Menschenrassen. Rassismus gibt es schon.
„Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.„7
Rassismus erklärt Handlung, Gedanken und gesellschaftliche Lagen von Menschen bzw. Gruppen von Menschen aus der Natur des Menschen heraus. Dabei geht es in erster Linie nicht um Abwertung. Die Kritik des Rassismus, die die Nützlichkeit und die Wertigkeit von Menschen hervorhebt, hat gar nichts gegen den Rassismus, sondern kommt nur zu einem anderen Urteil des rassistischen Maßnehmens („positiver“ Rassismus). Die Ideologie des Rassismus wird bestätigt, reproduziert und verstärkt.8 Ethnie, Volk, Nation oder Zugehörigkeit zu einer Religion oder Kultur werden oft als Äquivalent von „Rasse“ verwendet (Rassismus ohne Rassen).9 Solche Unterteilungen dienen als moralisch Rechtfertigung bzw. Legitimationen für gesellschaftliche und politische Ungerechtigkeiten.
Um Rassismus zu überwinden, müssen Denk- und Wahrnehmungsstrukturen sowie gesellschaftliche, politische Verhältnisse hinterfragt werden.
Unsere Leidenschaft, zu kategorisieren – das Leben säuberlich in Schubladen zu stecken -, hat zu einem unvorhergesehenen, paradoxen Elend geführt: Verwirrung, Zusammenbruch des Sinns. Die Kategorien, die die Welt für uns definieren und kontrollieren sollten, haben uns ins Chaos gestürzt.
James Baldwin, Notes of a Native Son
- „Der anatomisch moderne Mensch entstand vor über 250.000 Jahren in Afrika, von dort verbreitete er sich in kleinen Gruppen von Menschen über die restliche Welt. Die Nicht-Afrikaner zweigten sich vor ca. 60.000 Jahren von den Menschen aus dem östlichen Afrika ab und besiedelten einen Großteil der Welt.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Martin S. Fischer, apl. Prof. Dr. Uwe Hoßfeld, Prof. Dr. Johannes Krause, Prof. Dr. Stefan Richter, Jenaer Erklärung.
Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung. Jena, Friedrich-Schiller-Universität, 2019, Seite 4, Online im Internet: https://www.uni-jena.de/unijenamedia/60675/jenaer-erklaerung.pdf [Besucht am 16.12.2024] ↩︎ - Die Gefahr der Stereotype liegt darin, dass bestehende Vorurteile und Erwartungshaltung erheblich das Urteilsvermögen beeinflussen und sogar verändernd auf die Realität zurückwirken können (z.B. Selbsterfüllende Prophezeiung oder Erwartungshaltung der Versuchsleitung wissenschaftlicher Experimente). ↩︎
- Der Begriff „Rasse“ wird nur bei Haustieren verwendet. „Haustierrassen sind ausschließlich das Ergebnis menschlicher Züchtung und nicht das Ergebnis eines natürlichen, biologischen Prozesses.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Martin S. Fischer, apl. Prof. Dr. Uwe Hoßfeld, Prof. Dr. Johannes Krause, Prof. Dr. Stefan Richter, Jenaer Erklärung.
Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung. Jena, Friedrich-Schiller-Universität, 2019, Seite 3, Online im Internet: https://www.uni-jena.de/unijenamedia/60675/jenaer-erklaerung.pdf [Besucht am 16.12.2024] ↩︎ - Bildungsrassismus meint hier nicht den erschwerten Zugang zu Bildung aufgrund von Benachteiligung, sondern das Abwerten bestimmter Arten von Wissen wie z.B. indigenes (Heil)Pflanzenwissen gegenüber der Agra- und Pharmaindustrie oder eine höhere Entlohnung von Manager*innen gegenüber systemrelevanten Tätigkeiten wie die Versorgung mit Lebensmitteln und Care-Arbeit oder ein Schulsystem, das kognitive Fähigkeiten höher bewertet als Sozialkompetenzen wie Empathie und durch Benotung die Menschen für den Arbeitsmarkt vorsortiert. ↩︎
- Vgl. Albrecht Koschorke,In der Freiheit liegt das Wesen des Menschen – aber auf dem schwarzen Erdteil ist alles anders: Wie Hegel Geschichte verstand und warum Afrika seiner Ansicht nach nicht zur Weltgeschichte gehört, 2020, Online im Internet: https://www.nzz.ch/feuilleton/hegel-afrika-war-fuer-ihn-ein-geschichtsloser-kontinent-wieso-ld.1571992 [Besucht am 16.12.2024] ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Prof. Dr. Dr. h. c. Martin S. Fischer, apl. Prof. Dr. Uwe Hoßfeld, Prof. Dr. Johannes Krause, Prof. Dr. Stefan Richter, Jenaer Erklärung.
Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung. Jena, Friedrich-Schiller-Universität, 2019, Seite 2, Online im Internet: https://www.uni-jena.de/unijenamedia/60675/jenaer-erklaerung.pdf [Besucht am 16.12.2024] ↩︎ - Vgl. 99 zu eins, Antisemitismus – Eine Begriffsbestimmung, 2024, Online im Internet: https://blog.99zueins.de/2024/11/19/antisemitismus-eine-begriffsbestimmung/ [Besucht am 16.12.2024] ↩︎
- Unter Kulturalisierung wird die Praxis verstanden, Kultur als wesentliche, zentrale und determinierende Erklärung für (individuelle) Handlungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Konflikte oder Ausdrucksweisen zu verstehen. Ein frühes Verständnis von Rasse war die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht (Klasse): Der französische Adel und das französische Volk galten als zwei getrennte Rassen. ↩︎