Von Burg zu Bürger

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Heute bezeichnet der Begriff Bürger die Zugehörigkeit zu einem Staat, und damit verbunden Rechte und Pflichten, die Menschen durch Geburt haben.

Ursprünglich waren Bürger Bewohner einer befestigten Stadt* (Burg) zur Zeit des Feudalismus mit besonderen Rechten und Pflichten, die von den Herrschern bzw. ihren Lehnsmännern (Herzögen, Fürsten oder Bischöfen) verliehen wurden. Nur Bewohner mit zu versteuerndem Grundbesitz konnten die Rechte käuflich erwerben, sie waren nicht vererbbar. 

Das bedeutendste Recht war das Marktrecht bzw. die Marktgerechtigkeit, zu den Pflichten gehörte die Wehrpflicht. Als Ergebnis der französischen Revolution mit der Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden die Rechte der Bürger allen vollberechtigten (männlichen) Mitgliedern des Staates gewährt und die Grundlagen für das heutige politische System gelegt. Das bedeutet, sie haben nicht mehr und nicht weniger Rechte bekommen. Allen Menschen ist es erlaubt, an der Marktwirtschaft teilzunehmen. Das ist die Freiheit von der immer gesprochen wird. 

Entgegen François Noël Babeufs Idee der Gleichheit des Vermögens – alle haben gleiche Rechte und Pflichten zur gemeinschaftliche Arbeitsorganisation und Verfügung über die Arbeitsprodukte – erklärte Robespierre, die Freiheit des Kapitals bleibt unangetastet. Eigentum wurde wie Gleichheit, Freiheit und Sicherheit zu einem natürlichen (?), unveräußerlichen (?!) und heiligen (?) Recht.

In der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung wurde absolute Gleichheit als eine Schimäre (Trugbild) bezeichnet1. Die Ideale der Revolution wurden zugunsten einer Ideologie der Besitzenden verraten. 

Die Schimäre der Gerechtigkeit

Absolute Gleichheit ist nur dann eine Schimäre, wenn Eigentum nicht verhandelbar ist. Umgekehrt wird mit der Floskel von der Schimäre die Nicht-Verhandelbarkeit des Eigentum zur nicht in Frage zu stellenden Grundannahme. Ebenso verhält es sich mit der Idee von Recht und Gerechtigkeit: in der Präambel der Menschen- und Bürgerrechtserklärung wird auch die Ursache für das öffentliche Unglück und für die Verderbtheit der Regierungen genannt: die einzige (!) Ursache ist Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte. Rechte sind eine von Menschen geschaffene, gedankliche Konstruktion, sie sind weder natürlich noch heilig. Obwohl die Menschenrechte mit der Erklärung gerade erst ins Leben gerufen worden waren, soll die Missachtung derselben für die Probleme von Ungleichheit und Unfreiheit, die es vorher schon gab, verantwortlich sein?

Wer andere Gründe ausschließt, macht die wirklichen Ursache für Elend, Armut, Hunger, Sklaverei und Krieg unsichtbar. Die Menschenrechtserklärung ist an die Bürger und an die gesetzgebenden wie die ausübenden Gewalt gerichtet. Grundlegenden Verhältnisse wie z.B. grundsätzlich der Gerichtsbarkeit und den Repressionen des Staates unterworfen zu sein werden so bekräftigt und eine staatsunabhängige Rechtssprechung, die den Logiken der Vergebung, des Einvernehmens und der Wiedergutmachung folgt,  wird nicht mehr vorstellbar. Die Idee von Recht und Gerechtigkeit wird selbst zur Schimäre.

* Ähnlichkeiten mit der Festung Europa sind rein zufällig.


  1. Vgl. Gudrun Gersmann / Hubertus Kohle (Hrsg.), Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1990, S. 11 Online im Internet: URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/4709/1/4709.pdf [Besucht am 31.07 2024]
    Der ‚Discours Préliminaire‘ dieser Verfassung von 1795 ließ keinen Zweifel daran, welche Marschroute das von dem Tyrannen befreite Land einschlagen würde. Die „absolute Gleichheit sei eine Schimäre“ stand hier schwarz auf weiß zu lesen; nur von der Realisierung der „staatsbürgerlichen Gleichheit“ könne fortan die Rede sein.  ↩︎